Erhaltung und Verbesserung der Kinästhetik

Der Begriff Kinästhetik bedeutet Bewegungsempfinden und bezeichnet die Fähigkeit Raum-, Kraft-, Geschwindigkeit- und Spannungsverhältnisse der eigenen Bewegung wahrzunehmen. Häufig wird auch der Begriff der Propriozeption oder Tiefensensibiltät benutzt (Brandes et al 2019). In der Literatur findet sich eine Vielzahl an Definitionen der zwei Begriffe und sie werden sehr oft durcheinander verwendet.

Bewegungsempfinden wird in der Sportphysiologie definiert als Komplexe Disposition zur differenzierten, zweckmäßigen Aufnahme und Verarbeitung sensomotorischer Informationen bei der Realisierung eigener Bewegungshandlungen. Es gibt in diesem Zusammenhang auch den Ausdruck Körperschema: die Vorstellung vom eigenen Körper hinsichtlich seiner räumlichen Ausdehnung und Lage im Raum. Im Angelsaksischen spricht man von kinesthetic awareness und das bezeichnet ein kinästhetisches Bewußtsein für Körperteile und die Beziehung dieser Teile zueinander und zu Objekten in der Umgebung.

Afferente Signale von kinästhetischen Rezeptoren in und um Gelenke, in Muskeln, Sehnen und in der Haut projizieren auf Areale des somatosensorischen Kortex und lösen Empfindungen der Erkennung und Lokalisierung aus. Dies wird auf das Körpermodell bezogen, das Informationen über Größe und Form der Körperteile liefert. Die Kinästhesie ist zusammen mit dem Sehen und Tasten mit dem Gefühl des Körperbesitzes verbunden (Proske und Gandevia 2018).

Ganz schön vielschichtig also, das Thema.

Fest steht, dass dieses Empfinden ein sehr komplexer Prozess ist, woran periphere und zentrale neurale Systeme beteiligt sind, und wobei es nicht bloß um den richtigen Bewegunsgablauf geht, sondern auch um damit verbundenen Emotionen. Bewegungsfreude nennt sich das und hier spielt nicht nur der sensomotorische Kortex mit sondern auch das limbische System.

In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts haben Penfield und Mitarbeiter ausführliche intraoperative elektrische Stimulationen an Hirnen von Patienten mit einer Epilepsie oder Tumoren durchgeführt. Lebende Patienten, wohlgemerkt. Die motorischen und sensorischen Reaktionen auf diese Stimulationen (die Patienten bekamen eine Lokalanästhesie) wurden in stundenlangen Sitzungen penibel festgehalten und haben es den Untersuchern ermöglicht, den menschlichen Körper grob als topographische Projektion auf den somatosensorischen Kortex darzustellen.

Die medizinische Illustratorin Hortense Cantlie hat daraus mit einer gewissen künstlerischen Freiheit den berühmten Homunculus kreiert (Penfield und Boldrey 1950, Pogliano 2012, Gandhoke et al 2019). Penfield und seine Koautoren haben in späteren Publikationen immer wieder betont, dass dieser Homunculus als Lehrmittel und Gedächtnisstütze benutzt werden sollte, da er keineswegs anatomisch korrekt sei. Nicht das die Lokalisierungen nicht stimmten; mit modernen Methoden hat man aber später bestätigt, dass es unmöglich ist, aus den Messdaten eine Darstellung mit annährend humanoiden Eigenschaften zu konstruieren (Gandhoke et al 2019).

Penfield selbst hatte nie ein Problem damit, dass die Medien die Idee verbreitet haben und das etwas groteske Männchen kam beim großen Publikum gut an. Fest steht dennoch, dass es mehr oder weniger gut definierte kortikale Areale gibt, die afferent und efferent mit der Peripherie in Verbindung stehen. Und diese Areale sind in hohem Maße plastisch.

Aus den vielen Untersuchungen zur Hirnplastizität wissen wir, dass bereits wenigen Minuten nach einer Denervierung auf den somatosensorischen Kortex eine Reorganisation des zum denervierten Bereich gehörenden Projektionsgebiet stattfindet (Björkman et al 2004). Das verwaiste Gebiet wird buchstäblich von den Nachbarn übernommen. Anders ausgedrückt: die rezeptiven Bereiche der benachbarten Segmenten vergrößern sich.

Mit verschiedenen therapeutischen Anwendungen arbeiten spezialisierte Handtherapeuten daran, nach einer Hand-, Finger- oder Armreplantation diesen Zustand rückgängig zu machen. Dies nennt man Reinnervationstraining. Dabei werden nicht nur verschiedene Methoden zur sensorischen Stimulation wie TENS eingesetzt, sondern auch Spiegel und künstliche Hände um das ZNS auszutricksen (Ehrsson et al 2008, Kaas et al 2013, Dempsey-Jones et al 2019).

Wir wissen, dass mit elektrischer Stimulation in der Peripherie über einen Nerv oder einen motorischen Punkt die Erregbarkeit des motorischen Kortex im entsprechenden Projektionsbereich erhöht wird (Ridding et al 2000, Charlton et al 2003), insbesondere wenn die Stimulation Kontraktionen auslöst (Chipchase et al 2010). Länger dauernde Stimulation mit TENS führt dazu, dass das zum stimulierten Muskel gehörende Gebiet auf dem Kortex sich vergrößert (Meesen et al 2011), ein Effekt der mit fMRI auch bei der Akupunktur nachweisbar ist (Jiang et al 2013).

Diese Ausführungen sollen verdeutlichen, dass eine Neuromuskuläre Muskelstimulation in der Therapie oder im Training nicht nur etwas mit dem Muskel macht sondern weit reichende Konsequenzen für mit der Bewegung korrelierte kognitive Eigenschaften hat.

Außerdem ist dies meiner Meinung nach die wichtigste Begründung dafür, bei Patienten nach einer peripheren Nervenläsion eine Stimulation der denervierten Muskulatur durchzuführen. Wenn nach vielen Monaten eine Reinnervation stattfindet, soll der reinnervierte Muskel bitteschön über ein funktionierendes, kommunikationsfähiges Hirnareal verfügen.

Sonst heißt es leider Kein Anschluss unter dieser Nummer.


  • Björkman A, Rosén B, Lundborg G (2004) Acute improvement of hand sensibility after selective ipsilateral cutaneous forearm anaesthesia. Eur J Neurosci 20(10):2733-6
  • Brandes R, Lang F, Schmidt RF (2019) Physiologie des Menschen: mit Pathophysiologie. Springer-Lehrbuch, Springer; 32. Aufl. 2019 edition, ISBN-13 : 978-3662564677
  • Chipchase LS, Schabrun SM, Hodges PW (2011) Peripheral electrical stimulation to induce cortical plasticity: a systematic review of stimulus parameters. Clin Neurophysiol 122(3):456-463
  • Dempsey-Jones H, Themistocleous AC, Carone D, Ng TWC, Harrar V, Makin TR (2019) Blocking tactile input to one finger using anaesthetic enhances touch perception and learning in other fingers. J Exp Psychol Gen 148(4):713-727
  • Ehrsson HH, Rosén B, Stockselius A, Ragnö C, Köhler P, Lundborg G (2008) Upper limb amputees can be induced to experience a rubber hand as their own. Brain 131(Pt 12):3443-52
  • Gandhoke GS, Belykh E, Zhao X, Leblanc R, Preul MC (2019) Edwin Boldrey and Wilder Penfield's Homunculus: A Life Given by Mrs. Cantlie (In and Out of Realism). World Neurosurg 132:377-388
  • Jiang Y, Wang H, Liu Z, Dong Y, Dong Y, Xiang X, Bai L, Tian J, Wu L, Han J, Cui C (2013) Manipulation of and sustained effects on the human brain induced by different modalities of acupuncture: an fMRI study. PLoS One 8(6):e66815
  • Kaas AL, van de Ven V, Reithler J, Goebel R (2013) Tactile perceptual learning: learning curves and transfer to the contralateral finger. Exp Brain Res 224(3):477-88
  • Meesen RL, Cuypers K, Rothwell JC, Swinnen SP, Levin O (2011) The effect of long-term TENS on persistent neuroplastic changes in the human cerebral cortex. Hum Brain Mapp 32(6):872-82
  • Penfield W, Boldrey E. Somatic motor and sensory representation in the cerebral cortex of man as studied by electrical stimulation. http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.873.4232&rep=rep1&type=pdf
  • Pogliano C (2012) Penfield's homunculus and other grotesque creatures from the Land of If. Nuncius 27(1):141-62
  • Proske U, Gandevia SC (2018) Kinesthetic Senses. Compr Physiol 8(3):1157-1183
  • Ridding MC, Brouwer B, Miles TS, Pitcher JB, Thompson PD (2000) Changes in muscle responses to stimulation of the motor cortex induced by peripheral nerve stimulation in human subjects. Exp Brain Res 131(1):135-43